Beim IFAPLAN-Kamingespräch besprechen Vater Dieter und Sohn Marcel aktuelle Themen aus Wirtschaft und Gesellschaft.
In diesem Monat: Technischer Fortschritt
Marcel: Aktuell wird viel über den sich immer weiter beschleunigenden technischen Fortschritt diskutiert. Ist das aus soziologischer Sicht ein Prozess, der sich nur in eine Richtung bewegt, oder könnte irgendwann auch eine Phase von langsamerer technischer Entwicklung eintreten?
Dieter: Leben ist immer Entwicklung, unterliegt also einem Wandel. Diese Feststellung gilt nicht nur für das Individuum sondern auch für soziale Gebilde und die Gesamtgesellschaft. Der Wandel selbst, dem Entwicklungen unterliegen, kann sich beschleunigen oder auch verlangsamen. Der Wandel ist nicht für alle Bereiche des gesellschaftlichen Geschehens gleich sondern variiert von Bereich zu Bereich, wie auch von Gruppe zu Gruppe.
Auch der technische Fortschritt, bzw. der technische Wandel verlaufen mit veränderlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten. Diese Variabilität gilt für alle Kulturbereiche und ist keineswegs synchron für die Einzelelemente. Die Soziologen sprechen hier von „ kultureller“ Eigenzeit. Jeder Bereich verfügt insoweit über eine kulturelle Eigenzeit und eine eigene Entwicklungsgeschwindigkeit. Und diese Geschwindigkeit variiert im Verlaufe der Zeit.
So entwickelten sich Teile der Kultur, z.B. die Religion in Europa sehr schnell während des Mittelalters. Man denke nur an das geballte Entstehen von kirchlichen Orden, an die Ausgestaltung der Liturgie, an die Formulierung von Kirchenliedern oder auch die Reformation. Im gleichen Zeitraum des Mittelalters erlebten Naturwissenschaft und Technik eine sehr viel weniger dynamische Entwicklung. Deren Entwicklungsgeschwindigkeit stieg erst mit Beginn der „industriellen Revolutionen“.
Ab dem 18. und 19. Jahrhundert erfuhren religiöse Entwicklungen in Europa eine wesentliche Verlangsamung, die Technik erlebte dagegen einschneidende Fortschritte. Voraussetzung hierfür war eine Beschleunigung im Bereich der Naturwissenschaften, die selbst wiederum ihre heftigste Entwicklung zu Beginn des 20.Jahrhunderts erlebten, man denke nur an Einsteins Relativitätstheorie oder die Plancksche Quantentheorie.
Während diese Dynamik sich eher etwas abgebremst zu haben scheint, entwickeln sich die Bereiche der Anwendung dieser physikalischen Erkenntnisse immer noch zügig weiter.
Die derzeitige Situation in der Entwicklung der Technik wird durch die Beschleunigung im Bereich Daten- und Informationsverarbeitung dominiert, wobei sich der Fortschritt in immer dichterer Speicherung von Daten und immer schnellerer Verarbeitung und schnellerem Zugriff niederschlägt. Dies wiederum hat unmittelbaren Einfluss auf die Automatisierung von Prozessen und der Lösung von Aufgaben, die zuvor an der Menge der Daten, die es zu berücksichtigen gilt, scheiterte.
Die hohe Entwicklungsgeschwindigkeit im technisch-physikalischen Bereich wird irgendwann ihre Grenzen erreichen und/oder ggf. durch Entwicklungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen verzögert und ggf. sogar zum Stillstand gebracht werden. Vielleicht erlebt sie aber auch vorher einen weiteren Höhepunkt durch den Übergang von der elektronischen zur biologisch-chemischen Datenverarbeitung. Vielleicht gelingt ja auch die Integration von Datenverarbeitung und Speicherung durch Vernetzung von Mensch und Maschine. Das hätte übrigens den Vorteil, dass nicht allerorten Menschen mit Telefonen in der Hand herumlaufen müssten.
Marcel: Geht von einer weiteren Automatisierung der Produktion tatsächlich so eine große Gefahr für das Arbeitsleben der Menschen aus und wenn ja, wie könnte man in einer Welt ohne Arbeit Wohlstand verteilen?
Dieter: Die Frage nach der durch Automation und Roboter freigesetzten Arbeitskraft beschäftigt die Menschen seit Jahrzehnten. Ich erinnere mich an eine Diskussionsrunde meiner Studentenzeit in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, wo gefragt wurde, was man mit den freigesetzten Arbeitskräften machen sollte und auf welcher Basis sie ein Einkommen beziehen sollten. Tatsächlich ist es ja so, dass in weiten Teilen der industriellen Fertigung der Mensch durch Maschinen ersetzt werden kann. Und neueste Entwicklungen zeigen, dass man daran arbeitet, Roboter in der Pflege (beispielsweise von alten Menschen) einzusetzen.
Die Soziologiestudenten waren sich vor 50 Jahren sicher, dass man in einer derartigen Situation neue Wege der Verteilung des Sozialprodukts finden müsste, Wege, die sich völlig vom „arbeitsbezogenen“ Einkommen unterscheiden. Dass dieser Gedanke kein sozialistisches Hirngespinst ist, zeigt die heutige Diskussion über ein staatliches Grundeinkommen, über das beispielsweise in Skandinavien nachgedacht wird und über das vor Kurzem in der Schweiz (allerdings negativ) abgestimmt worden ist.
Meine persönliche Meinung ist allerdings, dass ich es für wahrscheinlicher halte, dass Gesellschaften statt „bedingungsloser“ Einkommen eine andere Lösung bevorzugen werden: Die Gesellschaft wird die Verteilung von Einkommen von Kriterien abhängig machen, die sich an der gesellschaftlichen Wünschbarkeit von Verhaltensweisen orientieren. Was heißt das? Handlungen, die gesellschaftlich positiv gesehen werden und dem Zusammenhalt dienen, werden belohnt. Disfunktionale Verhaltensmuster werden durch „Nicht-belohnen“ bestraft.
Marcel: Möglicherweise findet ja auch eine Anpassung über die Arbeitszeit statt. Lass uns doch demnächst über die Entwicklung und Trends bei Arbeitszeiten sprechen.
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